Was ist tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie?

Tiefenpsychologie wird zumeist gleichbedeutend mit Psychoanalyse gebraucht, d. h. man könnte auch von psychoanalytisch orientierter Psychotherapie sprechen. Ist tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie also gleich Psychoanalyse? Nein, die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie beziehen sich zwar auf einen gemeinsamen theoretischen Hintergrund, nämlich die von Sigmund Freud entwickelte Psychoanalyse(-theorie), unterscheiden sich aber in Form, Dauer und Ziel der Behandlung. Etliche der von Freud in seinen Schriften beschriebenen Therapien richteten sich übrigens auch keineswegs nach den heute als klassisch geltenden Regeln der Psychoanalyse sondern müssten nach heutigen Maßstäben als tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gelten. Die Psychoanalyse zielt auf Behandlung und womöglich Veränderung der gesamten Persönlichkeit, findet (meistens) im Liegen auf der schon sprichwörtlichen Couch statt und dauert mehrere Jahre bei mehreren Behandlungsterminen pro Woche. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie hingegen dauert in der Regel zwischen 1/2 und 2 Jahren mit einer Sitzung pro Woche und im Sitzen; das Ziel ist die Bearbeitung umschriebener Konflikte wie z. B. bei einer Depression häufig die Thematik Abgrenzung und Durchsetzung eigener Bedürfnisse. Für den Zweck dieser ganz kurzen Einführung möchte ich als wichtige Kennzeichen der psychoanalytischen Theorie drei Begriffe nennen:

1. Das Unbewusste: Die Psychoanalyse geht davon aus, dass es neben dem uns durch bewusste Anstrengungen zugänglichen Teil unserer Seele auch Teile gibt, die uns nicht bewusst sind, die aber dennoch wirksam sind und Einfluss auf unser inneres Erleben und unser äußeres Handeln haben. Die Behandlung zielt darauf ab, einen Teil dieses Unbewussten erkennbar zu machen, um dem Patienten eine bessere Erkenntnis und Befriedigung seiner Bedürfnisse zu ermöglichen.

2. Die Übertragung: Eine bestimmte und Art und Weise der Kontaktaufnahme zu anderen Menschen und deren Bewertung ist typisch für jeden von uns. Wir entwickeln in unserer Kindheit "Beziehungsmuster" durch die Auseinandersetzung mit unseren Eltern und/oder anderen wichtigen Bezugspersonen und neigen dazu, Beziehungen, die wir in unserem späteren Leben zu weiteren Menschen aufnehmen, nach den gleichen Mustern zu organisieren. Auch die Beziehung zu Psychotherapeuten wird unbewusst so gestaltet, wie wir es schon immer gemacht haben. In der Therapie wird versucht, diese Muster zu erkennen und bewusst zu machen, um eine größere Variationsbreite des Verhaltens zu ermöglichen und zu verhindern, dass man immer wieder die gleichen Fehler macht. In der Psychoanalyse ist die Übertragung das wichtigste Mittel der Behandlung. In der tiefenpsychologisch fundierten Therapie wird sie beachtet und womöglich genutzt, ist aber nicht das einzige, meist nicht mal das wichtigste Mittel der Behandlung.

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3. Zweizeitige Entwicklung der Störung: Ein bestimmtes Verhaltensmuster, das in der Kindheit entwickelt wird, macht zu diesem Zeitpunkt Sinn und wird ins Verhaltensmuster einer Person aufgenommen. Mit diesem Verhalten kommt der Mensch recht gut durchs Leben bis er auf eine Situation trifft, wo er dieses Verhalten zwar wieder anwendet, es aber unpassend ist und deshalb Schwierigkeiten verursacht. Aufgrund von bestimmten psychischen Gesetzmäßigkeiten kann es aber nicht so ohne weiteres abgelegt werden und es kommt plötzlich oder allmählich zur Entwicklung von Krankheitssymptomen, weil das angestrebte Ziel des Verhaltens nicht erreicht werden kann. Die Wurzel des Verhaltensmusters liegt also in der Kindheit, der krankmachende Effekt hingegen in der Gegenwart. Die Therapie zielt darauf ab, diesen Zusammenhang bewusst zu machen, damit ein besser passendes Verhalten entwickelt werden kann.

Der Begriff tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wird auch durch die Vorschriften der Krankenversicherungen, der Ärztekammern und der Kassenärztlichen Vereinigungen benutzt. Diese Institutionen haben ein Regelwerk dafür ausgearbeitet, in dem festgelegt ist, wer diese Therapieform ausüben darf, wer sie als Ausbildung anbieten kann, wie viele Stunden unter welchen Bedingungen höchstens von der Krankenkasse bezahlt werden usw. usf.

Obwohl also eigentlich nur von der Psychoanalyse abgeleitete Therapieverfahren die Bezeichnung tiefenpsychologisch beanspruchen können, versuchen auch etliche andere Therapierichtungen dieses Etikett für sich geltend zu machen, wie z. B. die Gestalttherapie, das Psychodrama usw. usf. Dies erklärt sich einerseits durch verwandte theoretische Konzepte, andererseits aber durch das Bestreben, die Anerkennung der Therapieformen durch die Krankenkassen zu erreichen.

Die einzige weitere Therapierichtung(also außer tiefenpsychologisch fundierter und psychoanalytischer), die von den Krankenkassen bis jetzt bezahlt wird, ist die Verhaltenstherapie. Sie beruht auf eigenen theoretischen Konzepten, der psychologischen Lern- und Verhaltenstheorie. Sie vermeidet das Konzept des Unbewussten weitgehend, beachtet die Übertragung vor allem in der therapeutischen Situation weniger und erklärt die Entstehung psychischer Störungen durch falsches Lernen und Verstärkungsmechanismen. Vielfach wird in der Verhaltenstherapie mehr mit konkreten Anweisungen und festen Programmen gearbeitet. Stärken der Verhaltenstherapie sind z. B. die Behandlung von Phobien und in letzter Zeit von Zwangsstörungen. In den letzten Jahren sind die Unterschiede in der therapeutischen Praxis zwischen Verhaltenstherapeuten und Tiefenpsychologen geringer geworden. Eine integrierte Ausbildung von Psychotherapeuten mit Elementen beider Schulen erscheint nicht mehr so utopisch wie vordem.

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